Aufzeichnung & Mitschrift

Prof. Joel Westheimer: Can Service-Learning Save Our World?

Unsere Zeit ist von tiefgreifenden Krisen geprägt: die Coronavirus-Pandemie, Rassismus und Gewalt gegen Schwarze und indigene Menschen, eine stark zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit, die Schwächung demokratischer Institutionen, der Klimawandel. Bildung gilt als Grundlage für gesellschaftliche Verbesserungen: Worauf kommt es dabei an? Und welchen Wandel kann Service-Learning bewirken?

In seinem Vortrag geht Prof. Joel Westheimer darauf ein, welche Rolle Schulen haben, um junge Menschen zu befähigen, die Welt zu verändern. Er zeigt auf, wie Lehrer*innen aller Fächer Schule als einen Ort betrachten können, an dem Kinder und Jugendliche nicht nur lesen, schreiben und rechnen lernen, sondern auch als einen Ort, an dem sie erfahren, wie sie unser demokratisches Zusammenleben und Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen gestalten können. Hier können Sie den Vortrag nachlesen:

Teil 1 | Ein Gedankenexperiment

Ich möchte mit einem Gedankenexperiment beginnen: Stellen Sie sich einmal vor, während Sie vor dem Bildschirm sitzen und mir zuhören, spüren Sie, dass Ihr Stuhl etwas wackelt. Und Sie wissen nicht genau, was los ist. Aber plötzlich beginnt Ihr Stuhl zu schweben, raus aus dem Raum, in dem Sie sitzen. Sie steigen immer höher. Sie halten sich fest. Sie schweben durch die Decke des Raums, hinein in die nächste Etage und dann durch das Gebäudedach. Sie fliegen immer höher, und blicken hinab auf die Stadt, in der Sie gerade sind. Sie steigen weiter und weiter, hinauf in die Atmosphäre, durchqueren die Stratosphäre und schwupps sind Sie im All. Sie schauen hinunter auf die Welt, die Erde dreht sich unter Ihnen. Sie wissen ja: Es ist ein Gedankenexperiment. Und deshalb nehmen wir an, dass Sie dort problemlos atmen können. Sie genießen den Ausblick, die Ruhe.

Plötzlich spüren Sie wieder dieses Ruckeln und Wackeln und Sie beginnen zu sinken, immer weiter hinab. Sie sinken durch den Weltraum, die Stratosphäre, die Atmosphäre, durch den Himmel, das Dach eines Gebäudes, durch einige Etagen, und landen mit Ihrem Stuhl in einem Klassenraum. Sie sitzen dort, beobachten den Lehrer beim Unterrichten, beobachten die Schüler. Hier beginnt der eigentliche Teil meines Gedankenexperiments. Sie schauen eine halbe Stunde lang zu … Und nehmen wir einmal an, die Kleidung der Menschen oder die Sprache, die sie sprechen, verraten Ihnen nicht, wo Sie sich befinden. Sie wissen nur, Sie sitzen in irgendeinem Klassenraum.

Kommen wir nun zur eigentlichen Frage – und ich möchte, dass Sie sich diese Frage selbst stellen: Wären Sie in der Lage zu sagen, ob Sie in einer Schule in einer Demokratie gelandet sind, z. B. in Deutschland, Frankreich, Kanada oder in den Vereinigten Staaten? Oder ob Sie eine Unterrichtsstunde in einer Diktatur oder einem totalitären Regime erleben, oder in einem Land, das von einem religiösen Führer regiert wird: Könnten Sie das sagen?

Ich stelle diese Frage gerne, weil die meisten von uns sagen würden: Natürlich könnte ich das. Die Schulen in Frankfurt oder Karlsruhe hätten nichts gemein mit Schulen in Nordkorea, in der Sowjetunion, im Iran oder in China. Sie wären völlig anders. Das sind ganz unterschiedliche Länder. Aber wenn Sie darüber nachdenken, dann könnten Schulen in Deutschland oder in New York und die Schulen in Nordkorea zum Teil die gleichen Dinge lehren – sei es Lesen oder Schreiben, Rechnen, Textverständnis, wie Blumen wachsen oder auch wie Photosynthese funktioniert. Viele dieser Unterrichtsinhalte könnten überall identisch sein. Warum also spielt dies eine Rolle?

Teil 2 | Von Schulen in Diktaturen und Schulen in Demokratien

Weil sich mir dann eine weitere Frage stellt. Wenn einige Dinge in den Schulen in einer totalitären Diktatur und an den Schulen in einer Demokratie eventuell gleich sind, dann frage ich mich: Sollte an Schulen in einer demokratischen Gesellschaft etwas anders sein als an Schulen  in einem autoritären Regime? Sollten sie sich unterschieden? Falls ja, was sollten wir an den Schulen in einer Demokratie anders machen?

Am heutigen Vormittag möchte ich darüber sprechen, wie Schulen dazu beitragen könnten, demokratische Institutionen und Gesellschaften zu stärken, und insbesondere darüber, wie gut Service-Learning für diese Aufgabe geeignet ist. Dies ist eventuell nicht immer der Fall. Service-Learning ist nicht perfekt und kann auch nachteilig angewendet werden. Aber bei richtiger Durchführung hat es das Potenzial, zu verändern, wie wir Bildung vermitteln und erhalten. Es muss hohe Ziele verfolgen, und die Art und Weise zu transformieren, wie unsere Gesellschaft funktioniert und wie wir demokratische Institutionen wahren.

All dies sage ich in einer Zeit, in der demokratische Institutionen rund um den Globus enormen Bedrohungen ausgesetzt sind, wie wir immer wieder feststellen. In den Vereinigten Staaten haben wir Donald Trump, aber wir können ihn nicht für alles verantwortlich machen. Wir haben es hier mit einer ganzen  republikanischen Partei zu tun, die sich im politischen Spektrum immer weiter nach rechts bewegt. In Deutschland haben Sie die AfD.

Wir haben gerade darüber gesprochen und Anne [Sliwka] hat uns erzählt, dass laut einer aktuellen Umfrage neun Prozent der Deutschen die AfD wählen würden, wenn heute Wahltag wäre. Das heißt, einer von zehn Menschen würde in Deutschland eine extrem rechte Partei wählen, die vermutlich kaum Respekt für das hat,  was die Menschen wirklich wollen. Es ist eine populistische Partei,  die nicht bereit ist, nachzudenken, wie eine Demokratie funktioniert.

Was also brauchen Schulen in einer Demokratie, was Schulen in einer Diktatur nicht brauchen? Dabei sollten Sie daran denken,  dass das öffentliche Schulsystem in demokratischen Gesellschaften  auf der ganzen Welt auf der Idee gründet, dass die Menschen eine gute Bildung brauchen, damit Demokratie funktioniert. Sonst funktioniert das Experiment nicht. Dies geht auf Thomas Jefferson zurück, der in etwa Folgendes sagte: Wenn die Menschen nicht gebildet genug sind,  ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, besteht die Lösung nicht darin, ihnen diese Macht wegzunehmen, sondern vielmehr darin, sie zu bilden. Das öffentliche Schulsystem in seiner unerreichten Idealform wird häufig mit der Vorstellung in Verbindung gebracht, dass eine gut funktionierende Demokratie eine gebildete Öffentlichkeit braucht.

Es geht nicht nur darum, als Pädagog*innen darüber zu reden, weil alle darüber reden. Wir reden deshalb darüber, weil Schulen  eine äußerst wichtige Rolle spielen, um Menschen zu lehren, wirkungsvolle Bürger*innen in einer Demokratie zu sein. Mit Bürger*innen meine ich Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft und nicht die juristische  Definition von „Bürger“. Unabhängig davon, ob Sie Einwohnerin oder ein legaler Bürger sind, können Sie sich in Ihrer Gemeinde engagieren, und in den Entscheidungsprozess Ihres Landes einbringen. Was ist dafür notwendig?

In demokratischen Gesellschaften müssen Bürger*innen unter anderem die Freiheit haben, unbequeme Fragen zu ihrer Regierung und der Gesellschaft um sie herum stellen zu können. Das ist etwas, was totalitäre Diktatoren, nicht einmal Carla, ihren Bürger*innen zugestehen würden. Sie wollen keine Fragen. Sie wollen entscheiden und sagen: „Das wird jetzt gemacht. Das sind die Spielregeln. Sie werden befolgt, weil ich das will.“ Aber in demokratischen Gesellschaften müssen die Menschen selbst die Wahl haben, politische Entscheidungen zu treffen und die Regeln für das Zusammenleben in der Gesellschaft festzulegen. Genau darum geht es in einer Demokratie. Es ist ein gemeinsamer Prozess zur Entscheidung der Frage: Wie sollten wir leben?

Meine Frau ist auch Dozentin, sie unterrichtet englische Literatur. Daher komme ich quasi per Osmose mit Literaturtheorie in Berührung. Eine Literaturwissenschaftlerin  mag ich besonders: Amanda Anderson. Sie sagt, die wichtigste Frage, mit der sich die Literaturkritik ihrer Meinung nach beschäftigen sollte, ist die Frage: Wie sollten wir leben? Ich glaube, als Pädagog*innen  trifft das auf uns alle zu, oder? Es ist eine der wichtigsten Fragen an die Schüler*innen, um sie zum Nachzudenken anzuregen.

Wie sollten wir leben? Diese Frage ist vielschichtig, denn sie impliziert, dass wir eine Wahl haben. In einer Diktatur hat man keine Wahl. Die Führung entscheidet über alles. Die Leitfiguren in einer Demokratie werden gewählt, aber sie treffen dennoch manche Entscheidungen für uns. Wir bewerten alles jedoch ständig neu, mindestens durch die Wahlen, aber hoffentlich durch noch mehr, indem wir z. B. Briefe schreiben, uns direkt an unsere Regierung wenden oder demonstrieren gehen. Immer wieder treffen wir Entscheidungen zu dieser so wichtigen Frage. Wie sollten wir leben? Sollten wir Steuern erhöhen oder Steuern senken? Sollten wir bei einer Pandemie Wochen oder Monate zu Hause bleiben? Oder sollten wir das Haus verlassen und wieder zur Tagesordnung übergehen? Sollten wir Abtreibungen legalisieren und die Reproduktionsmedizin für Frauen zugänglich machen, oder sollten wir dies unter Strafe stellen? Sollten homosexuelle Menschen einander heiraten dürfen oder sollte man ihnen dies verbieten? All dies sind Fragen, zu denen die Bürger*innen in einer Demokratie zusammenkommen und entscheiden müssen.

Schulen sind sicherlich die wichtigsten Institutionen, die es Bürger*innen ermöglichen können, diese Aufgabe wahrzunehmen, aber: Sie müssen Fragen stellen können. Erstens glaube ich, dass Bürger*innen in einer Demokratie in der Schule lernen müssen, wie man Fragen stellt und wie man zu Kompromissen und Entscheidungen kommt, die unser Zusammenleben regeln. Zweitens denke ich, dass Schulen in einer Demokratie den Menschen beibringen müssen, mit mehreren Perspektiven umzugehen.

Teil 3 | Junge Menschen und unbequeme Fragen

Erinnern wir uns: In Carlas Diktatur gibt es nur eine Perspektive bzw. eine offizielle Perspektive. Sicher diskutieren die Menschen zu Hause hinter vorgehaltener Hand darüber, was sie wollen, haben aber keine Möglichkeit, entsprechend zu handeln. In einer demokratischen Gesellschaft gibt es viele Meinungen dazu, wie wir künftig leben sollten. Manche Menschen nennen das Politik. Darum geht es bei Politik.

In vielen unserer Gesellschaften ist Politik heute ein Schimpfwort, insbesondere an den Schulen. Es ist beinahe eine Beleidigung. Wenn ich sage, Sie sind politisch, dann kommt das einem Affront gleich, zumindest in Nordamerika. Politisch sein bedeutet hier, nur die eigene Macht im Sinn zu haben. Alle anderen sind egal und alles, was zählt, ist die eigene Position. Politik hat jedoch einen viel nobleren Hintergrund. Bernard Crick schrieb das berühmte Buch „Eine Lanze für die Politik“. Darin sagt er, dass die Menschen in einer demokratischen Gesellschaft zusammenkommen müssen, um ihre Differenzen herauszuarbeiten und Fortschritte in der Sozialpolitik zu erzielen. Darum geht es bei Politik, nicht wahr? Politik heißt: Menschen kommen zusammen, um Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie leben sollten.

Das ist natürlich eine sehr grobe Darstellung, aber genau die Art von Politik, die wir meines Erachtens in den Schulen fördern müssen: nämlich die Vorstellung, dass es in der Welt wohlmeinende, intelligente und kluge Erwachsene gibt, die unterschiedliche Meinungen zu wichtigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen haben. Und dass es Aufgabe der Schüler*innen ist, diese unterschiedlichen Sichtweisen zu verstehen, zu wissen, was sie bedeuten, und eigene Schlüsse daraus zu ziehen, wie sie sich entwickeln wollen, welche Position sie vertreten. Und: welche Politiker*innen sie wählen wollen, an welchen Protesten und Demonstrationen sie teilnehmen und welche Briefe sie an ihre Lokalzeitung schreiben wollen.

Nicht alle werden sich gleichermaßen politisch engagieren. Aber alle müssen wissen, dass sie Verantwortung dafür tragen, Entscheidungen zu treffen, die unser Zusammenleben bestimmen – wirkt offensichtlich, ist es aber nicht. Viele Leute gehen davon aus, dass die Dinge, so wie sie sind, in irgendeiner Art allgemeingültig sind. In vielen Ländern haben wir das Gefühl, dass Politik und Wirtschaft einfach so sind, wie sie sind, wie die Luft, die wir atmen. Aber wenn wir Schüler*innen beibringen, unterschiedliche Perspektiven, Länder und Lebensauffassungen zu betrachten, dann öffnen wir eine ganze Welt von Möglichkeiten – weil wir die Botschaft übermitteln, dass sie wählen können, wie sich der Lauf der Geschichte entwickeln soll und wie sie leben wollen.

Bevor ich zum letzten Punkt komme, was Schulen tun sollten, um die Demokratie zu stärken, fasse ich das Gesagte kurz zusammen, um Ihnen das Verständnis als Nichtmuttersprachler*innen zu erleichtern. Als Erstes habe ich angemerkt, dass Schüler*innen lernen müssen, den Erwachsenen um sie herum und der Welt, in der sie leben, unbequeme Fragen zu stellen. Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass Schüler*innen verstehen, dass es mehrere Perspektiven gibt und sie diese Perspektiven mithilfe ihrer Lehrer selbst bewerten und sich entscheiden müssen, wie sie sich in der Welt engagieren wollen.

Das bringt mich zum dritten Punkt, dass Schulen Kontroversen akzeptieren müssen: unterschiedliche politische und soziale Meinungen und vor allem unterschiedliche Ansichten  zu tagesaktuellen Themen. Wenn US-Schulen im Unterricht z. B. das Thema Sklaverei behandeln und darüber sprechen, wie es zu bewerten ist, ergibt sich keine Kontroverse. Manche Menschen meinen vielleicht, die Sklaverei sollte wieder eingeführt werden, aber dafür gibt es keinerlei legitime Grundlage. Das ist unumstritten. Schüler*innen tendieren jedoch dazu, solche Sichtweisen abzutun, und sagen: „Natürlich sind Schwarze und Weiße gleichermaßen klug. Alle, die etwas anderes behaupten, haben es nicht verstanden. Ich würde das niemals denken.“ Wir müssen uns aber tagesaktuellen Kontroversen stellen, den Themen, die heute von Brisanz sind.

Denn das zeigt Schüler*innen, dass es in der Gesellschaft ungelöste Probleme gibt, Fragen von sozialer Gerechtigkeit  und gesellschaftlicher Bedeutung, bei denen sie sich einbringen müssen. Oder mit anderen Worten: dass Politik kein Sport zum Zuschauen ist. Sie ist kein TV-Event, dem wir nur passiv zusehen. Sie ist beteiligungsorientierter Sport, den wir ausüben müssen. Bitte verzeihen Sie die Sportanalogie, aber wir müssen alle mitspielen. Wir müssen unsere Position finden, um die Geschichte aktiv mitzugestalten, und Schüler*innen müssen das verstehen, unbequeme Fragen stellen, mit unterschiedlichen Ansichten umgehen und Kontroversen zulassen.

Teil 4 | Was Service-Learning verändern kann

Das sind die drei Elemente von Schulen in einer Demokratie, die wir im Unterrichtsplan einer Schule unter einem autoritären Regime, oder einer Militärjunta oder in einem Gottesstaat vergeblich suchen. Denn dort gibt die Führung den Takt vor und entscheidet, was getan werden soll.

Diese Elemente möchte ich nun auf Service-Learning übertragen, da es sich besonders gut eignet, um derartige Aufgaben zu bewältigen. Wie Sie wissen, geht es beim Service-Learning darum, die Schüler*innen zur Gemeinschaft zu bringen oder andersherum. Wir motivieren Kinder und Jugendliche dazu, sich in der Gemeinschaft zu engagieren, und binden die geleistete Arbeit und die Erfahrungen, die sie machen, in den akademischen Lehrplan ein. So lernen sie, dass Schulen weder fern der Gesellschaft agieren, noch irrelevant für diese sind – und dass ihre Bildung eng mit der Rolle verknüpft ist, die sie in der Gesellschaft spielen werden. Wenn sich Menschen mit den Problemen und Fragen in der Gemeinschaft aussetzen, ergibt sich das Potenzial für unbequeme Fragen und den Umgang mit Kontroversen, mit der Politik und mit mehreren Perspektiven. Das ist aber keine Garantie.

Aus der Forschung wissen wir, dass viele Service-Learning-Programme nicht die Idee fördern, die Ursachen von Problemen an der Wurzel zu packen und Lösungen für tiefgreifende und soziale Probleme zu finden, darunter Gewalt, Armut oder Obdachlosigkeit. Stattdessen vermitteln einige Programme Schüler*innen lediglich eine Art von Adel-verpflichtet-Ansatz für den sozialen Wandel: dass es immer arme Menschen geben wird und es unsere Pflicht ist, freiwillig in Suppenküchen zu arbeiten, um ihnen zu helfen, weil wir mehr Glück als diese Menschen haben. Darum müssen wir etwas zurückgeben. Natürlich ist es wichtig, sich einzubringen und etwas zurückgeben. Aber das fordert Schüler*innen nicht dazu auf, unbequeme Fragen zu stellen – wie: Wie können wir die Gesellschaft ändern, um die Dinge anders und besser zu machen?

Zwar kann Service-Learning die Art von Bildung, von der ich spreche, keinesfalls garantieren, aber es hat das Potenzial dazu, und es ist ein gutes pädagogisches Mittel, um Schüler*innen dazu zu bringen, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen.

Teil 5 | Parabel vom Fluss: Worum es geht

Bevor ich zum Schluss komme, erzähle ich noch eine kleine Geschichte. Die Bewohner*innen eines Dorfes  versammeln sich unten am Fluss. Sie waschen ihre Kleidung. Sie stehen alle zusammen am Ufer, und bemerken plötzlich ein Baby, das in einem Korb den Fluss hinuntertreibt. Das klingt etwas biblisch. Sie erblicken das Baby und jemand ruft: „Oh nein, wir müssen dieses Baby retten. Es wird ertrinken. Es treibt den Fluss hinunter.“ Also läuft jemand los, um das Baby aus dem Fluss zu holen. Sie retten das Baby, trocknen es ab,  halten es warm, füttern es und finden für das Baby ein neues Zuhause  und Eltern, die sich liebevoll kümmern. Und alles ist wieder gut.

Aber am nächsten Tag, als sie wieder unten am Fluss sind, entdeckt jemand plötzlich zwei Babys, die den Fluss hinuntertreiben, zwei Körbe, zwei Babys, und sie sagen: „Wir müssen diese Babys retten!” Sie wissen bestimmt, wie es weitergeht. Am nächsten Tag sind es drei und dann vier und fünf Babys. Schon bald springt das ganze Dorf  in den Fluss, um die Babys zu retten, sie zu füttern, zu kleiden und ein Zuhause für sie zu finden.

Eines Tages hat jemand im Dorf die Idee: „Warum gehen wir nicht flussaufwärts und finden heraus, woher all diese Babys kommen?“ Und alle sagen: „Keine Zeit. Wir müssen diese Babys retten, wir können nicht einfach weggehen.“ Und die Moral von der Geschichte? Die Geschichte lehrt uns, dass es natürlich sehr wichtig ist, direkte Unterstützung anzubieten, um bedürftigen Menschen zu helfen. Es ist unsere moralische Verpflichtung, ein ertrinkendes Baby zu retten. Aber wenn wir nur dies tun, wenn wir nur den Menschen helfen, die in einer akuten Notlage sind, haben wir etwas Wichtiges übersehen. Wir müssen flussaufwärts gehen, um herauszufinden, woher die Babys kommen.

Was können wir tun, damit die Babys gar nicht erst in den Fluss geraten? Viele Service-Learning-Programme befassen sich nicht mit dieser Frage. Ermutigen wir Schüler*innen dazu, sich in der Gemeinschaft zu engagieren, damit sie lernen, dass es wichtig ist, etwas zurückzugeben – dass das System an sich aber, so wie es ist, perfekt funktioniert? Oder sagen wir jungen Menschen, dass sie die Fähigkeit besitzen, die Welt zu verändern?

Zum Ende meines Beitrags erzähle ich eine persönliche Geschichte. Anschließend übergebe ich an Anne [Sliwka] und wir können in die Diskussion einsteigen. Vor einiger Zeit, das muss jetzt etwa zwei Jahre her sein, stand ich im Bahnhofsgebäude in Frankfurt. Ich war auf dem Weg nach Prag, wo ich einen Vortrag zu einem ähnlichen Thema halten würde, und wartete auf meinen Zug.

Und ich dachte über etwas nach, über das ich noch nie nachgedacht hatte, aber als ich dort stand, wurde mir klar, dass meine Mutter – sie ist jetzt 92 Jahre alt und lebt hier in New York – vor genau, fast auf die Woche genau, vor 80 Jahren hier in genau diesem Bahnhof in Frankfurt einen Kindertransportzug bestieg, mit dem ihre Eltern sie in ein Kinderheim in der Schweiz schickten.

Und ich wusste auch, dass sich der Frankfurter Bahnhof seither kaum verändert hat. Er sah fast noch genauso aus. Meine Mutter war zehn Jahre alt, als die diesen Zug bestieg – zusammen mit hundert anderen Kindern. Ohne Eltern. Sie verbrachte ihre Kindheit in der Schweiz  in einem späteren Waisenhaus. Es war das letzte Mal, dass sie ihre Eltern sah. Und ich dachte weiter darüber nach. Auch wenn dies Schulen wohl zu viel Macht verleiht, und natürlich gibt es Millionen von Gründen, die Sie alle viel besser kennen als ich, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zur Folge hatten: die Niederlage von Deutschland im Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und vieles anderes. Dennoch dachte ich weiter darüber nach, ob die Schulen in Deutschland und anderswo etwas anders hätten machen können, um solche Katastrophen zu verhindern.

Natürlich hätten die Schulen allein keinen Unterschied dieser Größenordnung bewirken können. Aber da ich Pädagoge bin, halte ich es für meine Verantwortung, diese Fragen zu stellen: Was können Schulen tun, um die nächste Katastrophe auf der Welt zu verhindern? Wir erleben bereits heute weltweit eine starke Schwächung unserer demokratischen Institutionen. Was können wir dafür tun, dass die Menschen wieder verstehen, wie wichtig Demokratie für eine gesunde und gerechte Welt ist, und sich verstärkt dafür einsetzen? Diese Frage möchte ich Service-Learning-Pädagog*innen stellen, wenn wir gemeinsam an die Arbeit gehen.

Vielen Dank.

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