29. März 2022 Interview zu Berufsorientierung mit LdE

"Das Gefühl, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können"

Das Berufswahl-SIEGEL zeichnet bundesweit Schulen aller Art aus, die jungen Menschen wirkungsvolle Berufliche Orientierung bieten. Wissenschaftlich beraten wird das Netzwerk durch Prof. Dr. Thorsten Bührmann: Im Gespräch legt er dar, welche Chancen Lernen durch Engagement in seinen Augen für nachhaltige Berufliche Orientierung bereithält.

Ein Interview von Lisa Funke

Unseren beruflichen Werdegang prägen unterschiedliche Einflussfaktoren in unterschiedlichen Momenten unseres Lebens. Welche Rolle schreiben Sie dabei der Schule zu?
 

Neben den eigenen Eltern ist die Schule für viele junge Menschen die einzige Institution, die einen beruflichen Entscheidungsprozess tatsächlich begleitet. Dadurch lastet eine enorme Verantwortung auf den Schultern von Lehrer*innen – gleichzeitig bleibt Berufsorientierung ein Thema, für das viele schulische Strukturen oft nur am Rande einen Platz bieten. Dabei könnte kaum eine Frage mehr Tragweite haben als die nach dem eigenen Lebensweg: Die Schule zu beenden und ein neues Kapitel aufzuschlagen, ist ein Übergang, der grundlegende Entscheidungen verlangt – und sich immer höchst individuell gestaltet. Junge Menschen emotional zu stärken und ihnen Mut zuzusprechen, ist in diesem Moment wichtiger, als viele Berufe zu kennen. Kann das familiäre Umfeld eines Schülers oder einer Schülerin das nicht leisten, ist die Unterstützung durch die Schule umso gefragter.

Damit zeigen Sie auf, dass Berufliche Orientierung in der Schule auch unmittelbar mit Chancengerechtigkeit zusammenhängt.
 

Ja. Je unsicherer sich eine Situation anfühlt, desto eher wird in der Regel die schnellstbeste Lösung gewählt. Wenn also die Frage nach der beruflichen Perspektive näher rückt, folgen wir dem Altbekannten und treten in die Fußstapfen unserer Eltern, oder nutzen deren Kontakte – und die ungleichen Chancen von heute bleiben die ungleichen Chancen von morgen.

Was verstehen Sie als das zentrale Ziel Beruflicher Orientierung?
 

Im besten Fall geht es bei der Beruflichen Orientierung nicht allein um den Moment, von der Schule in den Beruf zu wechseln, sondern darum, dass junge Menschen lernen, wie sie diesen Übergang gut gestalten – weil sie in ihrem Leben noch zahlreiche Übergänge zu gestalten haben. Berufliche Orientierung beinhaltet damit immer auch eine übergeordnete pädagogische Relevanz. Es gibt also genügend Gründe, das Thema als Schulgemeinschaft zu fördern. Und: Es gibt unzählige Lehrer*innen, Schulleitungen und lokale schulische Partner*innen, die das auf beeindruckende Weise tun, wie unser Netzwerk Berufswahl-SIEGEL zeigt.

Auch LdE-Schulen wie die Kurt-Tucholsky-Schule Flensburg oder die Albert-Schweitzer-Schule III in Freiburg tragen das Berufswahl-SIEGEL– unter anderem, weil LdE ein Baustein ihres berufsorientierenden Angebots ist. Welches Potenzial sehen sie in LdE für wirkungsvolle Berufliche Orientierung?
 

Lernen durch Engagement ermöglicht Schüler*innen eine Reihe von Erfahrungsräumen, die für qualitätsvolle Berufliche Orientierung entscheidend sind. Es zeigte sich, dass die LdE-Qualitätsstandards und die übergreifenden Kriterien des Berufswahlsiegels ideal ineinandergreifen.

Können Sie das ausführen?
 

Indem wir Berufsorientierung als individuellen Entscheidungs- und Übergangsprozess begreifen, der maßgeblich mit Persönlichkeitsentwicklung verwoben ist, ist die Partizipation von Schüler*innen grundlegend für das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit. Insbesondere mit Blick auf diese Umbruchsphase brauchen junge Menschen das Gefühl, die Dinge selbst in die Hand nehmen und bewusst gestalten zu können – auch, wenn das einmal mit einem Scheitern verbunden sein sollte, solange Schüler*innen die Chance erhalten, Entscheidungen zu revidieren, um daraus zu lernen. Informationen zur Beruflichen Orientierung und auch eigene Handlungen oder Erfahrungen wie Praktika bleiben außerdem wirkungslos, wenn sie nicht durch Reflexion verarbeitet werden – das haben unsere Studien gezeigt. Wenn Jugendliche hierbei nicht pädagogisch angeleitet werden, dann versickern diese Angebote schlichtweg. Die Wirkung schulischer Berufsorientierung hängt also entscheidend von der Vor- und Nachbereitung entsprechender Maßnahmen ab. 

Wie steht es um den Bezug erster beruflicher Erfahrungen zum schulischen Lernen?
 

Die nötige Reflexion geht Hand in Hand mit der curricularen Anbindung schulischer Angebote und der Erfahrungen, durch die junge Menschen an beruflicher Orientierung gewinnen sollen. Ob diese eine nachhaltige Wirkung entfalten, hat auch damit zu tun, welchen Nutzen ihnen die Schüler*innen persönlich beimessen: Von Anerkennung geprägte Begegnungen mit Bezugspersonen außerhalb der Schule können dabei eine große Rolle spielen – ein anderer Faktor ist, welche Bedeutung die Erfahrungen und Leistungen von Schüler*innen zur Beruflichen Orientierung innerhalb des Systems Schule haben, als zentralem Lebensmittelpunkt junger Menschen. Diese Verschränkung ist also ganz entscheidend.

Möchten Sie Schulen abschließend etwas sagen?
 

Mit Lernen durch Engagement können Schulen vielfältige Maßnahmen der Beruflichen Orientierung aufgreifen und ganzheitlich als Erfahrungslernen zusammenbinden. Von daher möchte ich engagierte Lehrer*innen und Schulleitungen dazu ermuntern, ihre Möglichkeiten guter Beruflicher Orientierung zusammen mit unserem Netzwerk Berufswahl-SIEGEL und dem bundesweiten Netzwerk Lernen durch Engagement zu entdecken und aktiv mitzugestalten.

Vielen Dank für das Gespräch!

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