07. Oktober 2021 Interview | Europabildung

"Ich sehe in Service-Learning die Grundidee von Europa verankert"

Was zeichnet wirkungsvolle Bildung für ein demokratisches Europa aus? Darum dreht sich unser jüngstes Programm, für das wir mit Expert*innen und Praktiker*innen aus Politik, Forschung und Schule im Austausch sind. Eine davon ist Michèle Schilt vom Zentrum für politische Bildung in Luxemburg, das Lernen durch Engagement seit Jahren fördert.

Wie steht es um Europabildung in Luxemburg?

Sehr provokant gesagt: Es gibt keine wirkliche Europabildung in Luxemburg. Meine Hypothese ist, dass Luxemburg so europäisch ist, sodass Bildungsträger*innen Europabildung nicht explizit für nötig halten. Als kleines Land sind wir eine sehr heterogene Gesellschaft, Zugezogene kommen größtenteils aus anderen europäischen Ländern. Zudem sind hier zentrale europäische Institutionen wie der Gerichtshof. Europa ist also ohnehin sehr präsent. Selbstverständlich steht Europa auf dem Programm – meist hat das aber etwas von einer gezielten Heranführung an die europäische Gemeinschaft, die als naturgegeben und alternativlos dargestellt wird. Dann geht es etwa um Europa als geografischen Raum, und die Geschichte der Europäischen Union. Ich bin mir nicht sicher, wie wichtig dieses Wissen überhaupt für Europabildung ist.

Warum aber wollen wir überhaupt ein vereintes Europa? Und was ist ein demokratisches Europa gegenüber einem undemokratischen Europa? Kritische Fragen wie diese zu stellen, wird kaum gefördert. Mein persönlicher Eindruck ist: Wir haben keinen aufgeklärten Diskurs über Europa in Luxemburg. Außerdem glaube ich, Lehrer*innen haben mit dem Gefühl zu kämpfen, als europafeindlich wahrgenommen zu werden, wenn sie einen kritischen Blick auf Europa fördern – oder gar in eine rechte oder linke Ecke des politischen Spektrums zu rutschen.

Das deckt sich mit unseren Erfahrungen: Schüler*innen beschreiben eine auffallend positives Bild von Europa. Wie können Schulen kritische Reflexion anstoßen?

Für politische Bildung gilt ja das Kontroversitätsgebot, das wichtig ist, aber immer eine Gratwanderung bleibt: Weil es neben einer kritischen Haltung auch darum geht, einen gewissen Enthusiasmus für Politik nicht zu zerstören. Beim Thema Europa finde ich das doppelt schwierig. In meiner Zeit als Lehrerin habe ich mich irgendwann gefragt: Muss ich den Kindern jetzt eigentlich beibringen, Europa zu mögen? Ehrlich gesagt finde ich bis heute keine Antwort darauf.

Planspiele zum Beispiel sind dabei sehr beliebt, weil es darum geht, Perspektiven wechseln und nachvollziehen zu können – und zu begreifen, wie komplex europäische Fragen sind. Politische Funktionsweisen zu vermitteln, ist sicher wichtig, aber dort sollte Bildung nicht stehen bleiben. Welche Kompetenzen zählen, um Europa mitgestalten zu können? Und welche Haltung wollen Lehrer*innen bei Kindern und Jugendlichen stärken? Ich glaube, diese wertvollen Fragen blicken auf das nachhaltige Ziel von Europabildung.

Welches Potenzial siehst Du in Lernen durch Engagement für Europabildung?

Ich sehe in Service-Learning die Grundidee von Europa verankert: Wir arbeiten gemeinsam, und sind solidarisch. Das klingt vielleicht träumerisch, aber unterm Strich ist das doch die Essenz von Europa, des europäischen Gedankens: Wir machen gemeinsam etwas für die Gesellschaft. Lernen durch Engagement ist außerdem nicht verkopft, was Europabildung zugänglicher machen kann: Es geht darum, einfach mal zu machen. Ich kenne eine Reihe guter Ansätze und Initiativen, die Jugendliche fragen, was sie selbst wichtig finden und womit sich die EU beschäftigen sollte. Darin steckt aber ein enormes Frustpotenzial, weil offenbleibt, wie es mit den Ideen weitergeht. Bei Lernen durch Engagement wiederum kommen Schüler*innen selbst ins Handeln, sie entwickeln eigene Ideen und setzen sie um, sodass sie am Ende auf ein Ergebnis schauen können – und nicht darauf warten müssen, dass andere etwas umsetzen. Hier kommt dann das Thema Selbstwirksamkeit ins Spiel.

Lass uns eine Zeitreise in die Zukunft machen, in der Bildung für ein demokratisches Europa Realität geworden ist. Was hat sich verändert?

Ich sehe Kinder und Jugendliche, die selbstbewusst ihre Meinung sagen. Die Teil lebendiger Gemeinschaften sind – innerhalb der Schule, aber auch außerhalb. Die Freundschaften in andere Länder haben. Und ich sehe Schulen, die Sprachen im regelmäßigen Austausch mit ausländischen Partnerschulen vermitteln – mit einem Fokus auf Kommunikation und Verständigung, anstatt von Bewertungen grammatikalischen Wissens. Schulen, in denen konstruktiv gestritten wird, und in denen Schüler*innen eigene Projekte angehen können, um ihre Ideen zu verwirklichen.

Natürlich hängt irgendwo auch eine Europakarte an der Wand. Aber nicht nur in Luxemburg bietet es sich aber an, einfach von der Vielfalt im Klassenzimmer auszugehen: Wo kommst du her, oder deine Eltern? Und erzähl mal, was weißt du über dieses Land? Unterschiedliche Lebenswelten kennenzulernen: Das halte ich für wichtig. Und dann können wir unsere Unterschiede und Gemeinsamkeiten vertiefen, und den Wert kultureller Vielfalt. Reden können wir lange über Europa, um aber die europäische Idee zu spüren, müssen Menschen zusammenkommen.

Danke für das inspirierende Gespräch!

Das Interview führte Anna Mauz

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