26. Januar 2021 Interview mit E-Learning-Experte Dr. Jan Ullmannn

"Ich wünsche mir ein Update unserer Bildungsidee"

Er begleitet Schulen dabei, digitale Lösungen für zeitgemäße Bildung zu finden. Im Interview zeigt uns Dr. Jan Ullmann, dass sich dabei eher über ein Schulfach "Kopf", die Funktionsweise des Hirns und Achtsamkeit sprechen lässt als über Apps

Stiftung Lernen durch Engagement: Was ist der jüngste Geistesblitz, den Du zum Thema Bildung hattest?

Dr. Jan Ullmann: Das ist eine gute Frage. Ich habe vor drei Tagen ein Interview mit dem von mir sehr geschätzten Gerald Hüther gesehen, ein Hirnforscher aus Deutschland. Es ging darum, was die aktuellen Corona-Maßnahmen mit unseren Kindern machen. Ein Satz hat mich tief bewegt: Forscher*innen zu künstlicher Intelligenz haben herausgefunden, was das Entscheidende ist, das Maschinen niemals können werden und von uns Menschen unterscheide: dass Menschen Bedürfnisse haben. Unterdrücken wir unsere natürlichen und lebhaften Bedürfnisse, macht uns digitalen Maschinen sehr ähnlich.

Mit welchen Fragen und Themen beschäftigst Du Dich?

Meine Expertise liegt in der Digitalisierung des Lernens. Was früher im Präsenzunterricht ablief und wie Schule jetzt digital mit Apps oder Softwares funktionieren kann, darum geht es mir nicht. Mein Interesse ist, den Menschen, seine Bedürfnisse und wie das menschliche Gehirn funktioniert mit der digitalen Technik zusammenzuführen. Und zwar in genau dieser Reihenfolge. Wie tickt unser Gehirn, wie unsere Emotionen? Und wie lässt sich daran die digitale Umsetzung anpassen? In meiner Arbeit beobachte ich zu oft, dass es erst darum geht, welche technischen Trends es gibt, und danach, wie das zu uns Menschen passt. Da drohen wir Menschen schnell, uns dem Diktat der Technik zu unterwerfen.

Wie sieht Deine Zusammenarbeit mit Schulen aus?

Auf der einen Seite technisch, indem ich Schulen ermögliche, Lernportale als Dreh- und Angelpunkt ihrer täglichen Arbeit nutzen zu können – sinnvoll, einfach und auch ästhetisch. Zum anderen bilde ich Lehrer*innen fort, damit sie das, was ich vermitteln kann, bestmöglich in die Schulen bis zu den Schüler*innen herantragen können. Und sich Lehrer*innen im Stande fühlen, technische Möglichkeiten selbst nutzen zu können – im Dienste dessen, worauf es dabei wirklich ankommt.

"Kindern steht eine Welt voller Möglichkeiten offen,
aber was ist eigentlich das Beste für sie?"

Und was mir sehr viel Spaß macht, ist direkt mit Schüler*innen zu arbeiten. Wenn ich junge Menschen frage, was ihnen gerade im Weg steht zu Lernerfolgen, aber auch zu Lebenszufriedenheit, kommen sehr spannende Antworten. „Mein Handy ist toll, aber ehrlich gesagt nervt es mich auch, ich schiebe ständig Dinge auf und kann mich gar nicht mehr konzentrieren“ bis hin zu „ich bin nichts wert“, „ich kann sowieso nichts“ und vor allem: „Ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben eigentlich anstellen soll“.

Diesen Kindern steht eine Welt voller Möglichkeiten offen, aber was ist eigentlich das Beste für sie? Diese Frage – so toll es ist, dass sie sich unsere Kinder stellen können! – überfordert total. Das ist der springende Punkt: Schüler*innen haben keine Tools und oft auch keine Ansprechpartner*innen, um diese Herausforderungen zu lösen. Wenn wir diese Probleme allerdings nichts lösen, können wir alle anderen Probleme auch nicht lösen: Wenn ich Angst habe, funktioniert mein Gehirn nämlich sowieso nicht, um Latein zu lernen oder Mathehausaufgaben zu machen.

Wie kann Schule darauf reagieren, dass Aufmerksamkeit und Konzentration größere Herausforderungen werden?

Das ist die Herausforderung der neuen Zeit. Es heißt oft, dass wir in einer verrückten Zeit leben würden, in der alles schneller und sehr komplex geworden sei. Dem stimme ich nur teilweise zu. Die Welt, wie wir sie wahrnehmen und der Mensch an sich: Ich glaube, das hat sich überhaupt nicht grundlegend verändert – auch nicht im Jahr 2021.

Was sich hingegen sehr verändert hat, ist die Menge an Informationen, die auf uns einprasseln: Das erzeugt die Illusion, alles werde schneller. Das ist nur, was unser Verstand daraus macht: Der kommt nicht hinterher. Deshalb wünsche ich mir auch ein Schulfach „Kopf“, damit junge Menschen lernen, über bewusste Wahrnehmung und Achtsamkeit möglichst selbstgesteuert mit ihrer Aufmerksamkeit umzugehen. Damit ich hinter dem Steuerrad meines Lebens sitze, anstatt von meinem Verstand gesteuert zu werden.

Was ist der zentrale Wandel, den Du in Schulen mit Deiner Arbeit anstoßen möchtest?

Mein allergrößter Wunsch – und das ist wohl auch das dickste Brett, das wir zu bohren haben – ist, dass die Bildungsidee in unseren Köpfen ein Update bekommt. Unser Bildungssystem, die Idee von Schule, Lernen und Denken: Das stammt aus einer Zeit, die mehr als 100 Jahre zurück liegt, als Menschen für Fabriken und Heere gebraucht waren. Darauf ist unsere Bildungsidee ausgelegt: konforme, brave, schnell ausgebildete Menschen, die sich austauschen lassen. Die gute Neuigkeit ist: Wir brauchen das nicht mehr, das machen Maschinen für uns. Gleichzeitig haben sich die Anforderungen in der Arbeitswelt geändert.

"Wenn die Angst weicht, sind wir auch wieder in der
Lage, Lösungen zu finden – aber eben erst dann."

Aktuell ist das System Schule eher ausgelegt auf Standardisierung, Leistungsmessung, Vergleich – und das passt einfach nicht mehr. Ich wünsche mir eine Bildungsidee, die auf Potenzialentfaltung ausgelegt ist. In der humanistischen Psychologie hat jeder Mensch zunächst ein unendliches Potenzial in sich, das erst im Laufe des Lebens eingeschränkt wird. Mein Ansatz ist, nicht vor allem neue Kompetenzen zu erlernen, sondern die Hindernisse, die sich durch Konditionierung in unser Hirn gebrannt haben und unserer Kreativität im Weg stehen, aus dem Weg zu räumen.

Was erlebst Du dabei als die entscheidenden Mauern oder Fallen?

Das ist ganz klar die Angst. Und zutiefst menschlich ist, dass wir vor allem davor Angst haben, die Kontrolle zu verlieren – vor Veränderungen und dem Unbekannten. Wenn ich also an Schulen komme und es heißt, 'jetzt kommt hier der Dr. Ullmann und sagt uns Lehrer*innen, was wir anders machen sollen, was wir bisher falsch gemacht haben und dass wir die Digitalisierung verschnarcht haben' und ich dann sage, „ihr braucht keine Angst zu haben“ – das bringt nichts. Ist diese Angst berechtigt? Und: Worum geht es eigentlich beim Thema Schule? Diese Fragen zu stellen ist das Einzige, was hilft. Wenn die Angst weicht, sind wir auch wieder in der Lage, Lösungen zu finden – aber eben erst dann.

Wie verändert LdE schulisches Lernen und Lehren in Deinen Augen?

Aus irgend einem Grund glauben wir Menschen ja, wir seien Input-Output-Maschinen: Wir ziehen uns irgendwie Informationen rein und dann wissen oder können wir das. Das funktioniert nicht oder nur sehr schlecht. Am besten lernt der Mensch nämlich über eine Erfahrung – oder im allerbesten Fall: über eine positiv empfundene, emotional aufgeladene Erfahrung. Dann bleiben die Sachen hängen. Da brauchen wir nur mal an die eigene Schulzeit zurückdenken. Was ich an LdE so spannend finde: Genau darauf liegt der Fokus. Wir haben schon genug Informationen und auch das Internet ist voller Informationen. Was aber Menschen nachhaltig positiv in Erinnerung bleibt und verändern kann, ist: Erfahrungen zu machen. Und das geht nur über das Tun und vor allem das Miteinander.

Vielen Dank für das Interview!


Dr. Jan Ullmann bezeichnet sich als Enthusiast, Trainer, Berater und Forscher zum Thema E-Learning. Er promovierte an der Ludwig-Maximilian Universität München zum Prinzip des "Flipped Classroom" und berät rund um die Themen Lernen und intelligente Technologien. 2015 gründete er Lernhandwerk, um individualisierte Lernkonzepte und mediendidaktische Trainings anzubieten. Mehr über Dr. Jan Ullmann können Sie hier erfahren.

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