14. Dezember 2020 Engagemosaik

Im Interview: Zweitzeugen

Sie tragen die Lebensgeschichten von Überlebenden des Holocaust in Schulen, um Vergangenheit spürbar zu machen: Für unsere Reihe Engagemosaik erzählt Katharina Müller-Spirawski von Zweitzeugen, wie Kinder und Jugendliche durch Geschichten über das Fühlen ins Handeln gegen das Vergessen kommen

Stiftung Lernen durch Engagement: Was genau macht Euer Verein?

Katharina Müller-Spirawski: Wir treffen Holocaustüberlebende, führen Interviews, dokumentieren die Lebensgeschichten dieser Menschen und geben sie in Bildungsprojekten weiter. Der Verein entstand aus einem Projekt heraus, bei dem Holocaust-Überlebende in Israel portraitiert worden sind. Diese Portraits wurden an der Universität in Münster ausgestellt – und es war schnell klar: Diese Geschichten müssen weitergetragen werden. Mittlerweile erzählen wir die Lebensgeschichten von 37 Holocaust-Überlebenden an Schulen und Bildungseinrichtungen in ganz Deutschland weiter, wir haben eine Wanderausstellung und bilden Erwachsene in Seminaren weiter.

Was wollt Ihr mit Eurem Engagement bewegen?

Die Idee ist – und das ist ähnlich wie bei Service-Learning, würde ich sagen: Kinder dazu anzuregen, selbst aktiv zu werden in der Demokratie. Dabei geht es nicht darum, dass die Schüler*innen plötzlich zum Beispiel Bundestagsabgeordneten schreiben würden, sondern zu spüren: 'Ich möchte meinen Mitschüler*innen davon erzählen', oder: 'Ich finde, wir sollten in der Schule eine Ausstellung über Zeitzeugen machen', oder einen Podcast oder Videos.

Es sind eher Ideen wie diese, die zeigen, dass Aktivierung möglich ist – und dass genau diese Aktivierung etwas in den Köpfen der Schüler*innen bewegt. Einfach nur eine Geschichte zu konsumieren, stößt sehr viel weniger Lernen an, als selbst etwas mit dieser Geschichte zu machen. Das ist unser Wunsch, der glücklicherweise auch oft aufgeht. Aber Schule ist von Strukturen geprägt – und in manchen Strukturen passt so etwas eben leider nicht.

Was bewirken Eure Workshops in Deinen Augen?

Unsere Hauptmotivation ist, Emotionen zu transportieren. Wir verstehen uns als Ergänzung von Unterricht und sagen: Guter Unterricht braucht nicht nur das Schulbuch und den schockierenden Berg von Leichen eines Konzentrationslagers auf Seite 52, sondern auch die Erzählung eines Überlebenden, wie all das erlebt wurde. Das versuchen wir weiterzugeben. Oft hören wir von Lehrer*innen, dass die Kinder und Jugendlichen noch nie so lange zugehört hätten – weil es eben eine echte, wahre Geschichte ist, die mitgefühlt werden kann. Und daraus entsteht tatsächlich häufig der Wunsch bei den Schüler*innen, etwas zu tun und zurück zu geben.

Wie reagieren die Schüler*innen auf die Lebensgeschichten?

Meiner Erfahrung nach ist das sehr von dem sozialen Hintergrund der Kinder und Jugendlichen abhängig. An Schulen in Gegenden, in denen Schüler*innen eher privilegiert aufwachsen und sich bislang sehr wenig Sorgen in ihrem Leben machen mussten, nehmen die jungen Menschen meist mit, dass so etwas nie wieder passieren darf, dass wir Menschen nicht ausgrenzen dürfen und unsere Gesellschaft immer aufpassen muss, wie es um unsere Demokratie steht.

In Umgebungen wiederum, in denen Kinder selbst schon Herausforderungen erlebt haben und vielleicht kämpfen mussten, nehmen sie häufiger mit: ‚Dieser Mensch hat es aus solch einer Krise geschafft und konnte sich ein Leben aufbauen: Dann kann ich das auch.‘ Das ist dann eher eine Motivation für das eigene Leben.

Worauf legt Ihr besonderen Wert in der Bildungsarbeit?

Zunächst müssen die historischen Fakten stimmen. Es ist uns aber vor allem wichtig zu zeigen, was es bedeutet hat, damals zu leben und verfolgt zu werden, sich verstecken zu müssen und auszuhalten, dass die Eltern umgebracht wurden – um dadurch im besten Fall aus dem Herzen ins Handeln zu kommen: 'Jetzt habe ich die Geschichten von vor 80 Jahren gehört und ich habe etwas dabei gelernt, aber ich habe auch etwas gespürt – und aus diesem Gefühl heraus möchte ich jetzt etwas schaffen'.

Kinder ins Handeln bringen: Wie können wir uns das vorstellen?

Was die Kinder und Jugendlichen immer machen, ist, einen Brief zu schreiben am Ende jedes Workshops an die jeweiligen Überlebenden – die schicken wir nach Israel, damit die Zeitzeug*innen und ihre Angehörigen sie lesen können. Das ist quasi das Minimum.

Und dann ist da das Engagement, zu dem unsere Besuche und die Zweitzeugenberichte die Schüler*innen anstoßen. Von Kindern und Jugendlichen, die mit Plakaten durch ihre Schule gezogen sind, bis zu kleinen Lesungen in der Gemeinde war schon einiges dabei, was sich die Kinder überlegt haben, um die Geschichten weiterzutragen.

Wie sieht Eure Zusammenarbeit mit Schulen aus?

Wir kommen auf Einladung in Schulen und arbeiten dort in Form von Workshops mit den Schüler*innen zusammen. Wir sind für mindestens drei Schulstunden im Unterricht, mehrere Tage sind aber auch möglich. Am liebsten machen wir das im Klassenverband, weil die Kinder und Jugendlichen sich dann umso besser aufeinander einlassen und ihre Gefühle zulassen können. Im Zentrum der Workshops stehen die Lebensgeschichten, von denen wir 20 bis 30 Minuten lang erzählen – auch davon, wie das Leben der Überlebenden nach dem Holocaust weiterging und wie die Menschen auf uns wirkten.

Und an diesen Lebensgeschichten arbeiten wir anschließend mit den Schüler*innen weiter, um das Nachempfinden mit verschiedenen Methoden zu vertiefen und schließlich darüber zu sprechen, was das Ganze mit unserer Gegenwart zu tun hat. Generell arbeiten wir mit Kindern ab dem zehnten Lebensjahr zusammen. Das alles ist ohne eine Pandemie natürlich einfacher. Aber wir schauen gerne nach Lösungen und Terminen.

Vielen Dank, liebe Katharina!

 


 

Katharina Müller-Spirawski ist Gründungsmitglied von ZWEITZEUGEN e. V. und für die Bildungsarbeit des Vereins zuständig. Über die persönlichen Erzählungen von Schoah-Überlebenden macht das ZWEITZEUGEN e. V. Geschichte nachfühlbar und begreifbarer. Der Ansatz des Vereins: Insbesondere junge Menschen verstehen die Bedeutung von Geschichte für ihr eigenes Leben erst durch die Begegnung mit Zeitzeug*innen. Doch Zeitzeug*innen werden nicht mehr lange sprechen können. Damit sie zukünftig nicht verstummen, erzählen Zweitzeug*innen ihre Geschichten über das Leben vor, während und nach dem Holocaust weiter. Im Dezember 2020 wurde ZWEITZEUGEN e. V. mit dem Engagementpreis Nordrhein-Westfalens ausgezeichnet. Mehr Informationen gibt es unter www.zweitzeugen.de

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